"Meine Mutter sperrte uns in den Schrank.", erinnert sich Momo. "Mich und meine kleine Schwester Saadia. Lautlos, Maman sah mich an und presste den Finger auf ihren Mund. Sie schloss den Schrank zu und zog den Schlüssel heraus. Ich hatte Saadia in meinen Armen und hielt ihr den Mund zu. Sie war damals sechs Jahre, ich zwölf.
Von unten war Tumult und Geschrei zu hören. Aber Maman blieb ruhig, zog sich ihr Übergewand an und den Hijab, das konnte ich durch eine Ritze erkennen. Dann ging sie aus dem Zimmer und wohl hinunter.
Es war der Tag, an dem sie meinen Vater und Mounir, meinen großen Bruder, abholten. Wir haben sie nie wieder gesehen. Mounir war erst 15.
Maman sagte, sie hat gefragt: Wohin bringen Sie sie?
Zum Verhör. Zum Verhör.
Aber sie kamen nicht wieder.
Wir wissen nicht, was geschehen ist. Wir wissen noch nicht mal, wer sie mitgenommen hat. So war der Bürgerkrieg, und ich glaube, so ist jeder Krieg, du sitzt mitten drin, und schreckliche Dinge geschehen, und du weißt gar nichts. Nur Angst.
Maman sagt, es waren acht oder neun Männer, alle mit schweren Waffen, Kalaschnikows oder sowas, aber wer waren sie? Vier von ihnen trugen Militäruniform, die anderen waren gekleidet wie Bauern aus der Umgebung, und fast alle hatten Bärte. Islamisten oder Militär? Sie hätten beides sein können.
Als sie runter kam, standen Papa und Mounir mit dem Gesicht zur Wand, die Hände auf dem Rücken gefesselt.
Das Mädchen hat das Tor aufgemacht. Sie hämmerten dagegen und schrieen: Aufmachen! Polizei! Papa hat ihr gesagt, sie soll aufmachen.
Er und Mounir standen in der Halle, als sie hereinstürmten. Sie haben sie geschlagen und zu Boden geworfen.
Wir alle haben gedacht, sie würden das ganze Haus durchkämmen. Aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund haben sie das nicht gemacht.
Dann führten sie Papa und Mounir ab.
Sie kamen nicht wieder und wir wussten nicht, was geschehen war. Es war eine ganz schreckliche Zeit.
Maman hatte Fotos von ihnen gerahmt und jeden Tag frische Blumen davor gestellt und nachts eine Kerze angezündet. Sie saß die Nächte im Gebet, manchmal blieb ich an ihrer Seite bis zum Morgengrauen. Ya Allah, bitte schick uns ein Zeichen!
Ungefähr ein halbes Jahr später klopfte ein Mann ans Tor, der erzählte, in der Nähe von Boufarik, auf einem Acker, haben sie ein Massengrab entdeckt. Dort habe man unseren Vater identifiziert.
Nein, er selbst war nicht dabei, er ist nur der Überbringer der Nachricht. Mein Vater sei an seiner Armbanduhr mit dem ausgefallenen dreifarbigen Armband erkannt worden. Und derjenige hat dann nachgesehen, ob er auch das Muttermal am Hals hat. Ja, das hatte er. Von Mounir aber keine Spur.
Die Leichen seien aber nicht geborgen worden - zu gefährlich - man hat sie wieder zugegraben und sich den Standort genau gemerkt für später.
Maman fragte nach seinem Namen, aber er sagte nur: Nennen Sie mich Hassan. Und dann verschwand er wieder.
Wir wissen nicht was das bedeutet. Nein, wir sind schon ziemlich sicher, dass Papa und Mounir tot sind.
Später wurden viele Massengräber entdeckt, aber von so einem bei Boufarik war nie die Rede.
Maman erzählte mir - da war ich schon in Marseille - eines Tages sah sie diesen Hassan auf der Straße. Sie war sich ganz sicher, dass er es ist. Sie sprach ihn an, doch der Mann sagte, er weiß von nichts. Er heißt nicht Hassan und er hat auch nie bei uns ans Tor geklopft.
Krieg heißt Ungewissheit, und das ist das Schlimmste. Das versteht überhaupt keiner, was das bedeutet, auf ein Lebenszeichen von seinen Lieben zu hoffen, und zu wissen, was für Gräueltaten da draußen passieren."
"My mother locked us in the closet," Momo remembers. "Me and my little sister Saadia. Silently, Maman looked at me and pressed her finger to her mouth. She locked the closet and pulled out the key. I had Saadia in my arms and covered her mouth. She was six years at that time, I was twelve.
You could hear turmoil and shouting from downstairs. But Maman remained calm and put on her overcoat and hijab, which I could see through a crack. Then she went out of the room and apparently downstairs.
It was the day they were taking away my father and Mounir, my big brother. We never saw them again. Mounir was only 15.
Maman said she asked where are you taking them?
For interrogation. For interrogation.
But they didn't come back.
We don't know what happened. We don't even know who took them. That's what the civil war was like, and I think that's how every war is, you're in the middle of it and terrible things are happening and you don't know anything. Just fear.
Maman says there were eight or nine men, all with heavy weapons, Kalashnikovs and stuff, but who were they? Four of them wore military uniforms, the others were dressed like local farmers, and almost all of them had beards. Islamists or military? They could have been both.
When she came down, Papa and Mounir were facing the wall, their hands tied behind their backs.
The maid opened the gate. They were beating on it and shouting: Open up! This is the police! Then Dad told her to open the door.
He and Mounir were standing in the hall when they stormed in. They were beating them and threw them to the ground.
We all thought they were going to search the whole house. But for some inexplicable reason they didn't do that.
Then they led Papa and Mounir away.
They didn't come back and we didn't know what had happened. It was a very terrible time.
Maman had framed photos of them and put fresh flowers in front of them every day and lit a candle at night. She sat in prayer at night, and sometimes I stayed by her side until dawn. Ya Allah, please send us a sign!
About six months later, a man knocked on the gate and said that they had discovered a mass grave in a field near Boufarik. Our father was identified there.
No, he wasn't there himself, he's just the bearer of the message. My father was identified by his watch with the unusual three-color strap. And then the person checked to see if he also had the birthmark on his neck. Yes, he did. But no sign of Mounir.
But the bodies were not recovered - it was too dangerous - they buried them again and noted the exact location for later.
Maman asked his name, but he just said: Call me Hassan. And then he disappeared.
We don't know what that means. No, we're pretty sure Papa and Mounir are dead.
Many mass graves were discovered later, but there was never any mention of one like this near Boufarik.
Maman told me - I was already in Marseille - one day she saw this guy Hassan on the street. She was absolutely sure it was him. She spoke to him, but the man said he doesn't know anything. His name is not Hassan and he never knocked on our gate.
War means uncertainty, and that is the worst thing. Nobody understands what it means to hope for a sign of life from your loved ones and to know what atrocities are happening out there."